Ambivalenz 29.10.2015

 

Ich stand am oberen Ende einer Rolltreppe im Bahnhof der nächstgrößeren Stadt, als ich meiner Freundin F. erklärte, welche unglaublich erleichternde Erkenntnis gewonnen hatte. Ich dachte, das würde alle Konflikte lösen. Ich stand dort mit F. und wir wollten ausgehen. Vielleicht ins Kino. Vielleicht war es der Tag, an dem wir in einen Film gerieten, der nur 3 Zuschauer*innen in die schmierigen orangefarbenen alten Sessel des Kinos brachte. Dieser Film handelte von Orozco, dem Einbalsamierer in Bogota. Der Film zeigte sehr detailliert, wie Orozco die Leichen der Stadt ausweidet, mit altem Stoff füttert, vernäht, verklebt, anzieht, frisiert und schminkt. Ich wusste mit 15 Jahren nichts über Kolumbien, aber die Vergänglichkeit allen Lebens wurde mir sehr bewusst, als ich frisch erschossene Frauen in meinem Alter sah, deren Körper spartanisch einbalsamiert wurden. Der Regisseur, ein hagerer Typ mit dem Namen Kiyotaka Tsurisaki, erklärte, dass er die Aufnahmen gemacht hat, als er eigentlich unterwegs war mit einem anderen Regisseur, der in Kolumbien einen SM- Film drehte. Er sei eigentlich auch Filmer für Fetischpornografie und interessiert sich für die Verdorbenheit der Menschen.

 

Ich weiß nicht mehr, wohin wir unterwegs waren. Es kann sein, dass es auch früher war, dass wir dort standen und ich versuchte das Revolutionäre an meinem Gedanken zu artikulieren. Ewig war ich davon besessen gewesen heraus zu finden, was das Richtige und Gute ist. Wonach soll ich mich richten? Wie eine einzige bescheuerte Entscheidung treffen?

 

Und dann ging es mir auf: Es ist einfach egal was ich mache! Ich kann einfach alles als richtig bewerten. Alles ist wertvoll und gut. Es ist egal was für eine Entscheidung ich treffe. Retrospektiv und im Moment kann ich es als gut bewerten. Ich hatte herausgefunden, dass alle Werturteile relativ sind. Dass ich die Macht habe sie zu benutzen wie es mir beliebt. Ich kann Entscheidungen treffen und sie kategorisch als gut bewerten. Nichts wird je mehr falsch laufen! Nichts!

 

Aber die Normen sind viel tiefer in uns verankert als die Sprache einer Person zu bekämpfen kann. Und obwohl ich selber alles mit Worten bewerten kann und umdefinieren kann, fühlt es sich nicht unbedingt anders an. Wertsysteme und Kategorisierungen haben lange Geschichten, die außerhalb der Individuen scheinen. Theoretisch wurde mir jedoch klar, dass das Leben nur für die wertvoll ist, die fühlen, dass das Leben wertvoll ist, nicht einfach so aus sich heraus. Es erschien mir einleuchtend, warum unsere westlichen Werte nicht überall hin exportiert werden müssen. Es erschien mir möglich, dass es ok ist, dass woanders andere Regeln gelten können. Ich musste feststellen, dass das Töten von Menschen nichts Schlechtes an sich ist.

 

Ich war total aufgeregt. Ich spürte am ganzen Körper, wie sich die Realität nur durch scheinbar zufällige Urteile entwickelte. Jeder Bestandteil der Realität fügte sich in einem Dauerloop zu einem Bild zusammen, die ganze Welt konstruierte sich neu. Zuvor hatte ich Angst, dass alles determiniert ist, aber es schien mir plötzlich so unwahrscheinlich, wenn ein Ereignis plötzlich so viele Bedeutungen haben kann. Natürlich war die Idee der Determination noch nicht ausgemerzt. Aber ich dachte mir, wenn alles so viele Bedeutungen haben kann, ist unsere Urteilskraft wahrscheinlich auch nicht so groß. Wir sind so wahnsinnig limitiert durch unser Menschsein. Wir müssen immer aus der Perspektive von Menschen urteilen und können nicht wissen, zumindest nicht intellektuell, ob wir etwas wissen.

 

Zum einen war das eine große Erleichterung, aber ich war plötzlich so reich und gleichzeitig so arm. Ich konnte alles behaupten und es würde Realität werden und ich konnte nichts wissen, selbst, wenn ich es meinte. Ich spürte Ambivalenz. Unauflösbare Widersprüche. Und ich wusste nicht, wie man daraus ein Leben entwickeln konnte. Meine erste Reaktion war eine fundamentale Misanthropie.

 

Heute weiß ich es auch nicht besser. Aber ich habe Einiges gelesen und gehört. Meine Gedanken waren nicht revolutionär. Für mich war es besonders, weil ich wirklich fast am Menschsein gescheitert bin und nicht die nötigen Informationen erhalten haben, die meiner Desillusion einen Platz in der Welt gegeben hätten. Jetzt weiß ich, dass es Wissenschaften in dieser Gesellschaft gibt. Dort beschäftigt man sich mit diesen Themen. Es gibt ein freudiges Forschen um diese unauflösbaren Paradoxa. Obwohl es keine Erkenntnis zu geben scheint, hören Menschen nicht auf, das Problem immer detaillierter zu umkreisen. Gemeinsam reden sie einander ein, dass es das Bemühen wert ist. Manche Wissenschaften propagieren, sie könnten Erkenntnistheorie ausklammern, als würde es sie nicht betreffen. Es betrifft sie auch nicht, solange sie ihre eigenen Prämissen oder Axiome offenbaren.

 

Ich habe nicht so viele Glaubengrundsätze. Die grundlegendste Entscheidung, die ich jemals getroffen habe, war, das Leben als wertvoll zu achten. Ich fühle das nicht tief aus mir heraus, aber die meisten anderen Menschen tun das. Und ich glaube, ich liebe diese Menschen. Sie glauben, dass es sich lohnt zu leben. Sie glauben an Glück und dass es sich lohnt das Leben zu schützen und zu bewahren. Ihnen zu liebe nehme ich das als den kleinsten gemeinsamen Nenner. Um „normal“ existieren zu können, muss man ein Mindestmaß an Akzeptanz von den anderen Menschen gespiegelt bekommen, man muss im Rahmen der geltenden Normen agieren.

 

Das ist der Grundstein für jede meiner gesellschaftstheoretischen Überlegung. Ich lege immer diese Vorstellungen a priori:  Die meisten Menschen nehmen an, dass das Lebendige wertvoll ist. Daraus lässt sich schon viel ableiten. Probleme bleiben. Der Zusammenhang von Theorie und Praxis ist ein Beispiel. Was ist das, was wir denken? Das, was wir aufschreiben können? Was ist ein verbales Werturteil? Sind es Diskurse, die gesellschaftliche Werte herstellen? Wie sehr formt Autosuggestion die Wirklichkeit und das Empfinden von Wirklichkeit? Wo und was sind die Menschen, die die Worte hervorbringen? Sind Worte Handlungen oder transzendental?

 

Auf jeden Fall entschied ich verschiedene Phänomene des Alltags als konstruiert zu untersuchen. Ich beschloss Liebe als künstliches Wertgebäude anzusehen und auszuprobieren, wie es sich anfühlt dieses Sentiment als irreal zu betrachten. Ich eckte an. Und ich ertrug es nicht, mein Selbst als gesellschaftlich konstruiert zu betrachten. Ich entschied mich für die Unentschlossenheit.

Kann Wissenschaft Erkenntnis bringen? Ich weiß es nicht.

 

 

Amelie Jakubek

Jaydn Hubrecht

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